Zuerst in: Spiegel Online, 19/1998

Zettel’s ROM

Arno Schmidt ist einer der bedeutendsten Autoren dieses Jahrhunderts. Jetzt gibt es sein Werk auf CD-ROM.

»Ein Register wäre auch was Schönes« notierte Arno Schmidt anläßlich einer Rezension und klassifizierte mit dieser Feststellung den rezensierten biographischen Band 34 der Bamberger Karl-May-Ausgabe als Altpapier. Für ihn, der »gekettet an Daten und Namen« geradezu besessen war von Karteikarten, Registern und Tabellen, war die Güte eines Registers ein untrügliches Maß für die Güte eines Buchs.

Nun hat sein eigenes Werk etwas bekommen, was auch das umfangreichste Register nicht bieten kann: Eine Konkordanz, das alphabetische Verzeichnis sämtlicher Wörter eines Werkes samt Kontext also: eine unüberschaubare Wortlawine und ein unschätzbares Werkzeug für forschende Leser.

Bislang gab es dergleichen nur in voluminösen Folianten und nur für die diversen Heiligen Schriften von Gott bis Goethe. Nun also auch für Arno Schmidt und in Form einer 274 MByte großen ASCII-Datei auf einer mit 357 MByte mählich gefüllten CD-ROM.

Die über 2,2 Millionen Worte umfassende Konkordanz ist Teil der ›Bargfelder Ausgabe auf CD-ROM‹ die als »ergänzendes Hilfsmittel für den Schmidt-Forscher und Interessenten« die bisher im Rahmen der Werkausgabe veröffentlichten Texte Arno Schmidts in digitaler Form auf CD-ROM präsentiert.

Und das ist fast das Gesamtwerk des eigensinnigen Haidedichters, das im Druck 14 groß- bis überformatige Bände füllt. Neben den bislang unveröffentlichten Texten aus dem Nachlaß fehlen an nennenswerten Stücken lediglich die Briefe und das monströse Textgebirge ›Zettel’s Traum‹, dessen Drucklegung sich »als weitaus komplizierter und damit zeitaufwendiger« herausgestellt hat, als die Text- und Nachlaßverwalter in Bargfeld anfangs glaubten.

Doch mit der CD hält auch das leidige Wort »Update« Einzug ins Philologendeutsch: Dieses nämlich ist geplant, sobald ›Zettel’s Traum‹ im Rahmen der ›Bargfelder Ausgabe‹ erscheinen wird. Und mit dem Wort kommen auch schon die bekannten tröstenden Versprechungen auf die nächste, »erweiterte Version«, die mit »zusätzlichen Programmfunktionen« wie »besseren Zähl- und Auswertungsmöglichkeiten« oder »Häufigkeitslisten« aufwarten soll.

Bis dahin werden jedoch noch einige Jahre ins Land gehen, in denen man sich nolens volens mit Zettel’s ROM begnügen muß. Deren Nutzen für Schmidtforscher und -leser kann ernsthaft zwar nicht bestritten werden: Allein die Konkordanz rechtfertigt das gesamte Unternehmen und auch ohne sie würde jeder Schmidt-Interessierte die CD und die durch sie ermöglichte Spuren- und Zitatensuche kreuz und quer durchs Gesamtwerk lebhaft begrüßen.

Doch sind Suchfunktionen ein selbstverständliches Merkmal digitaler Editionen durchaus keine herausragende Besonderheit der Bargfelder CD. Und so sollte man bei aller Begeisterung über die preisenswerte Tatsache, den ganzen Schmidt problemlos auf der Festplatte vorrätig halten zu können, die Mängel der Ausgabe nicht übersehen.

Diese sind, was Fehler bei der Bildschirmdarstellung oder eigenwilligen Besonderheiten der Suchfunktion betrifft, zum Teil »der von Microsoft erstellten Suchsoftware« geschuldet. Bleibt die Frage, warum diese Software dann überhaupt benutzt wurde, schließlich gibt es, das beweisen andere Textausgaben auf CD-ROM, durchaus erheblich leistungsfähigere Alternativen von Acrobat über Folio Views bis View-Lit (von der ebenfalls denkbaren Aufbereitung in HTML mal ganz zu schweigen).

Zum Teil aber hat man wohl in Bargfeld über die Philologie die technischen Grundlagen vernachlässigt: Die Behauptung, man habe aus Kompatibilitätsgründen »bei der Umsetzung auf die Schrift ›Bembo‹ der Bargfelder Ausgabe« verzichten müssen, ist ganz einfach falsch.

Doch das sind Petitessen, die man genauso in Kauf nehmen kann wie die etwas konfuse Bedienung der Suchfunktion. Sehr viel ärgerlicher ist es da schon, daß man lediglich 15 Lesezeichen anlegen und diese obendrein nicht speichern kann, sie gehen bei der Beendigung des Programms ganz einfach verloren: Is it a bug or a feature?

Genug der bedienungstechnischen Beckmessereien – wie steht es um den Textkorpus? Natürlich ist die CD keine Alternative und erst recht kein Ersatz für die Druckfassung und sie will es auch gar nicht sein. Nicht nur, weil wohl kein Mensch einen Roman oder eine Erzählung am Bildschirm lesen möchte, sondern auch weil CD und Druck überraschenderweise im Textbestand nicht übereinstimmen.

So stieß Schmidt-Experte Marius Fränzel bei seiner Rezension der CD für die Schmidt-Zeitschrift ›Das Schauerfeld‹ nicht nur auf Anhieb auf einige Unstimmigkeiten, sondern auch auf einen Passus, der sich in der gedruckten Fassung der Bargfelder Werkausgabe nicht findet.

Ein weiteres Problem stellt die Umsetzung Schmidtscher Eigenheiten dar: Er hält sich nur selten und seit ›Kaff auch Mare Crisium‹ gar nicht mehr an eine dudenkonforme Schreibweise, setzt Zeichen oder Wörter übereinander und arbeitet mit unterschiedlich angeordneten Textbereichen. All das läßt sich, wenn überhaupt, nur annäherungsweise am Bildschirm wiedergeben.

Noch heikler ist die Umsetzung der späten Typoskripte. Seit ›Zettel’s Traum‹ bestanden die Schmidtschen Werke aus der fotomechanischen Reproduktionen seines Schreibmaschinen-Manuskript. Begründet hat Schmidt sein Vorgehen mit der Buchstruktur, die drucktechnisch derzeit nicht anders abzubilden sei. Allerdings, so fügte er listig hinzu, sei es ja »für den Kenner durchaus ein Reiz mehr, nun praktisch das Original-Manuskript vor sich zu haben.« Obendrein habe er aus der (angeblichen) Not »ne Tugend insofern gemacht […] als ich auch – mir Zeichnungen am Rande erlaubt habe, oder Bildvorlagen die mich anregten«.

Entsprechend sehen die Typoskripte in der Erstausgabe dann auch aus. Sie konfrontieren den Leser mit Schreibmaschinen-Seiten im DIN-A-3-Format mit zum Teil mehreren, verschachtelten Spalten. Es finden sich eingeklebte Bildern und Skizzen, auf jeder Seite stehen handschriftlichen Ergänzungen, Korrekturen mit ausgeixten oder komplett geschwärzten Passagen: Das Schmidtschen Spätwerk gleicht weit eher einem Werkstattbericht als einem abgeschlossenem Werk und vermittelt eine faszinierende, offene Leseerfahrung.

Diese Einzigartigkeit geht bereits in der gedruckten ›Bargfelder Ausgabe‹ verloren. Sie zwängt die Typoskripte ins Korsett des sauber gebändigten Blocksatzes und verwischt alle Werkstatt-Spuren zugunsten einer Abgeschlossenheit, die den Typoskripten gerade nicht zukommt.

Die CD-ROM-Fassung ist natürlich noch weiter vom Text entfernt, sie kann nur als Kompaß dienen, mit dem sich der Kurs durch die Wortmeere des Spätwerks bestimmen läßt. In einem Punkt scheint jedoch scheint die CD paradoxerweise näher am Originalmanuskript als der Druck: Der Bildschirmleser bekommt etwas zu sehen, was in allen Buchausgaben verloren geht. Während die von Schmidt im Text eingestreuten Zeichnungen, Skizzen, Fotos und Bildmaterialien in der drucktechnischen Reproduktion in Schwarz-Weiß abgebildet werden, sind sie auf der CD-ROM in Farbe und manchmal sogar vollständiger als im Buch.

Leider scheint sich dieser für Schmidt-Leser erfreuliche Mehrwert eher dem Zufall als der konkreten Planung zu verdanken – schließlich fehlen im Gegenzug »vier Bilder […] mit Typo- oder Manuskriptdarstellungen, da deren Text in der Bildschirmauflösung nicht lesbar gewesen wäre.« Eine mehr als windschiefe Begründung, hängt doch die Lesbarkeit in erster Linie von der Scanqualität ab (und Platz genug für vier hochaufgelöste TIFFs wäre auf der CD-ROM allemal).

So bleibt unterm Strich als großer Pluspunkt der ›Bargfelder Ausgabe auf CD-ROM‹ die Konkordanz, die sie für Schmidt-Forscher unentbehrlich macht. Für Schmidt-Leser bietet sie dagegen nur die gewohnten Standards digitaler Editionen. Nicht mehr – aber leider manchmal weniger. Für 320 Mark: zu wenig.

Arno Schmidt, ›Werke und Konkordanz. Die Bargfelder Ausgabe auf CD-ROM‹, CD-ROM für Windows 3.1, Windows 95, Windows NT, Software u. Handbuch v. Günter Jürgensmeier, Zürich, eine Edition der Arno Schmidt Stiftung im Haffmanns Verlag 1998.
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