Zuerst in: Schauerfeld, Heft 2, 1999

Suchen. Finden. Verstehen?

Notizen zum Nutzen digitaler Texteditionen für den Schmidt-Leser.

1Auf der Jahrestagung der GASL Ende Oktober 1998 in Rendsburg gab Heinrich Schwier einen zwar nur kursorischen, aber dafür um so emphatischeren Einblick in die Ergebnisse seiner umfänglichen Beschäftigung mit ›Schwarze Spiegel‹ und ›Brand’s Haide‹. Mit viel Verve breitete er seine Funde aus, schlug überraschende Volten, erläuterte unvermutete Zusammenhänge, verriet Deutungsschlupflöcher und war alles in allem der Person gewordene Bibelspruch vom vollen Herzen und übergehenden Mund.

An einer Stelle jedoch hielt er in seinem lebhaftem Vortrag inne und präsentierte dem Publikum ein Zitat aus ›Brand’s Haide‹: »War Heute reif für schlechte Gesellschaft: Konditor, Konditor!: Was ist der Mensch und was kann aus ihm werden!« (BA, I, 1, S. 188). Ob wohl jemand wisse, worauf sich der Ich-Erzähler berufe und was das seltsame »Konditor, Konditor!« da zu suchen habe?

Vielleicht wußte es keiner, vielleicht wollte auch bloß keiner der Spielverderber sein – auf jeden Fall konnte Schwier den erwartungsvoll schweigenden Zuhörern mit triumphierender Begeisterung das kleine Zitatenrätsel sehr plausibel lösen. Bevor er dies jedoch tat, genoß er sein exklusives Wissen und erzählte, wie sehr ihn die unzugängliche Konditor-Anspielung verfolgt und schier wahnsinnig gemacht habe, bis ihn ein zufälliger Lektürefund endlich von seiner Qual erlöste und ihm den rechten Weg wies.

2Im ›Schauerfeld‹ 1/99 erzählt Marius Fränzel die Geschichte der Jagd nach einem Heine-Zitat, mit dem Schmidt in ›Sitara‹ den Paragraphen 4 einleitet: »HEINRICH HEINE freilich hätte sich die Beweisführung weitgehend dadurch erleichtert, daß er den Zeilen des Zitates abwechselnd ein ›von vorn‹ und ›von hinten‹ anhängte« (BA, III, 2, S. 27). Trotz einiger Anstrengungen gelang es Fränzel nicht, den Bezug auf Heine zu klären. Dafür wurde er in Freuds ›Traumdeutung‹ fündig, was ihm ganz vorzüglich in den interpretatorischen Kram paßte.

Da ihm niemand die Anspielung in ›Sitara‹ auflösen konnte und ihm auch der versierte Heine- und Schmidt-Kenner Thomas Körber versicherte, bei der fraglichen Stelle handele es sich um eine Anspielung auf Freud, nicht auf Heine, fühlte sich Fränzel in seiner Interpretation bestätigt, legte den Fall zu den Akten, ergänzte seine Arbeit um eine Fußnote und widmete sich anderen Dingen. Nämlich einem kleinem Nebenthema des Komplexes Heinrich Heine & Arno Schmidt, auf den er während der Zitatensuche gestoßen war. Und siehe da: Bei der vorbereitenden Lektüre zu diesem Thema stieß er nun unverhofft auf eben jene Stelle bei Heine, die Schmidt in ›Sitara‹ meinte.

3Die Mühen und Plagen von Schwier und Fränzel sind wohl jedem Schmidt-Leser – und nicht nur ihm – vertraut. Schließlich ist Schmidts Werk unter anderem auch ein mal mehr, mal weniger dicht geknüpfter Teppich aus Zitaten und Allusionen, Reminiszenzen und Hinweisen, deren Auflösung nicht immer einfach, aber häufig zum Textverständnis notwendig ist.

Oder vielleicht auch nur notwendig scheint: Während die Auflösung der Konditor-Anspielung der Lektüre tatsächlich ein wenig auf die Sprünge hilft und eine unverständliche Stelle verstehbar macht, führt der schließlich doch geglückte Heine-Nachweis nicht weiter, sondern nur wieder zurück zum Text, der ganz simpel und plan genau das meint, was da steht. Ob man die Heine-Anspielung korrekt einordnen kann oder nicht, spielt zum Verständnis von ›Sitara‹ prima vista keine größere Rolle.

Die beiden Fälle sind beinahe eine idealtypische Illustration der zeitraubenden und leider nur zu häufig frustrierenden Suche nach Quellen und Vorlagen. Die meisten Funde verdanken sich dem schieren Zufall und zur Orientierung in der potentiell unendlichen Literaturlandschaft können nur ein paar vage Vermutungen dienen, die wie Pflöcke im Llano estaccado den Reisenden nur immer tiefer hineintreiben in die tückischen Untiefen der Texte. Ohne eine gehörige Portion Glück ist hier der größte Forscherfleiß vergebens.

4 Nun stehen zwar in Form von Zitatenlexika und Wörterbüchern eine Reihe helfender Nachschlagewerke zur Verfügung, doch erschließen sie nicht nur ein völlig unzureichendes Kleinstterritorium der Literatur, sondern sind obendrein nicht für jedermann zugänglich: Wer nicht gerade studiert, an einer Universität arbeitet oder zufällig in der Nähe einer größeren Bibliothek wohnt, wird die meisten literaturwissenschaftlichen Werkzeuge nur vom Hörensagen kennen.

Aber es gibt noch einen anderen Weg, seinem Glück ein wenig auf die Sprünge zu helfen: Texteditionen und Lexika auf CD-ROM. Man lasse sich vom verspielten Schnickschnack sogenannter multimedialer Aufbereitungen nicht irritieren. Dergleichen drängelt sich zwar mit wichtigtuerischer Aufdringlichkeit in den Vordergrund, ist aber fast durchweg unbrauchbar.

Doch im Laufe der letzten Jahre ist die Reihe schlichter digitaler Textsammlungen erfreulich angewachsen. Noch erfreulicher ist dabei, daß viele dieser CD-ROMs mit einem durchschnittlichen Preis von rund 100 DM durchaus erschwinglich sind – die ›Bargfelder Ausgabe auf CD-ROM‹ liegt mit 320 DM schon deutlich im oberen Drittel der Preisskala.

Natürlich kann man Texte am Computerbildschirm nicht wirklich lesen, doch dafür sind derartige Sammlungen auch gar nicht gedacht: Dank ausgefeilter Such- und Filterfunktionen sind die riesige Textmengen in Sekundenschnelle nach Worten und Zitaten zu durchforsten.

5 Mit Hilfe einer solchen CD-ROM hätten Schwier und Fränzel ihre zum Teil jahrelange Textsuche auf wenige Minuten abkürzen können. So bietet z.B. die rund 100 DM teure CD-ROM ›Die deutsche Literatur von Lessing bis Kafka‹, wie die Verlagswerbung stolz vorrechnet, »mehr als 70.000 Seiten Text von 58 deutschen Autoren«.

Die Suche nach »Konditor« führt bei dieser CD zu 17 Fundstellen in fünf Texten: In Fontanes ›Stine‹ taucht das Wort einmal auf, zweimal in Goethes ›Wilhelm Meisters Lehrjahre‹, E. T. A. Hoffmann ist mit 13 Treffern vertreten (acht in ›Das öde Haus‹, fünf in ›Nußknacker und Mausekönig‹) und Seume benutzt »Konditor« schließlich einmal in ›Mein Leben‹.

Hoffmann klingt angesichts des naturgeisterhaften Treibens in ›Brand’s Haide‹ recht vielversprechend und richtig, im ›Nußknacker‹-Märchen findet sich prompt die Stelle, an die der Ich-Erzähler denkt und die Heinrich Schwier so lange vergeblich suchte.

Noch schneller läßt sich die Heine-Anspielung in ›Sitara‹ auflösen. Die Formulierung »von hinten« wird in Heines Werk sechsmal gefunden und der vierte Treffer ist die gesuchte Stelle in den ›Bädern von Lucca‹.

Dabei ist diese Literatur-CD-ROM nur der Anfang, und das nicht nur metaphorisch: Sie ist der Band 1 der inzwischen fünfzehnbändigen ›Digitalen Bibliothek‹, zu der nicht nur Werkausgaben gehören, sondern auch Lexika wie die ›Propyläen Weltgeschichte‹ oder ›Wilperts Lexikon der Weltliteratur‹.

Die ›Digitale Bibliothek‹ ist zwar hierzulande die wichtigste Sammlung, aber bei weitem nicht die einzige Anstrengung, die CD-ROM (und in Zukunft wohl die DVD, die das rund zehnfache Fassungsvermögen – 6 GByte statt 600 MByte – besitzt) als Publikationsmedium ernst zu nehmen. So kündigt der Systhema-Verlag für August die 500 Mark teure CD-ROM-Ausgabe von Kindlers ›Neuem Literatur Lexikon‹ an und schaut man erst einmal ins Internet, so kann einem vor lauter Texten schon schwindlig werden: ob Shakespeare oder die Luther-Bibel, Poe oder Joyce, Karl May oder Gutzkow – digitale Werkausgaben wohin man schaut.

6 Die Möglichkeiten sind enorm. Was vor gerade mal einer Dekade noch als Hoffnung in die ferne Zukunft projiziert wurde, ist alltäglichste Realität. Schon heute stehen dem forschendem Leser digitale Werkzeuge zur Verfügung, deren Leistungsfähigkeit einem schier den Atem verschlägt.

Doch cave! Vor allzugroßer Emphase sei gewarnt. So mächtig diese Werkzeuge auch sind, so schwindelerregend die Perspektive auch sein mag, die ein Blick in die Zukunft eröffnet – eines sollte dabei nicht vergessen werden: es sind Werkzeuge, mehr nicht. Sie können keine Wunder vollbringen, halten die gleichen Frustrationen bereit, wie alle anderen Nachschlagewerke auch und so wie bei diesen, muß der Umgang mit ihnen gelernt werden. Sie helfen bei der täglichen Textarbeit, können mühselige Handgriffe abkürzen und dem Forscher stumpfsinnige Arbeiten wie die Erstellung eines Registers oder einer Konkordanz abnehmen.

Sie sind keine via regia zum Text, Verständnis auf Knopfdruck ist mit ihnen nicht zu haben. So wenig, wie die Einzelstellenkommentare zu ›Zettel’s Traum‹ zum grundlegenden Verstehen des Buches notwendig sind – die gelegentlich geäußerte Hoffnung, diesem sehr großen Text durch kleine Hypertexte hermeneutisch beikommen zu können, ist eine eskapistische Illusion –, so wenig trägt die Digitalisierung zum Verstehen der digitalisierten Texte bei.

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