Zuerst in: Die Zeit im Internet, 27/2000

Arno Schmidt, ›Seelandschaft mit Pocahontas‹

Am 3. März 1956 erhielt die junge Bundesrepublik des immer noch alten Deutschlands Gelegenheit, sich vor dem zivilisierten Teil der Menschheit zu blamieren. Sie griff beherzt zu. Arno Schmidt und Alfred Andersch wurden

angeklagt, zu Saarburg und an anderen Orten, im Jahre 1955, gemein­schaftlich handelnd, in Tateinheit, […] eine unzüchtige Schrift verbreitet zu haben, indem sie in der […] Zeitschrift »Texte und Zeichen« einen von dem Angeschuldigten Schmidt geschriebenen Kurzroman »Seelandschaft mit Pocahontas« veröffentlichten, der Religionsbeschimpfungen und Gotteslästerungen enthält und weiterhin Schilderungen sexuellen Charakters bringt, die geeignet sind, das Scham- und Sittlichkeitsgefühl gesund empfindender Menschen in geschlechtlicher Hinsicht zu verletzen.

Also sprach der in geschlechtlicher Hinsicht gesund empfindende Oberstaatsanwalt zu Trier in seiner Anklageschrift an das zweifellos ebenfalls gesund empfindende erweiterte Trierer Schöffengericht.

Die Strafanzeige samt dem am 27. Juli eingestellten Verfahren sind vielfach das einzige, was selbst versierte Arno-Schmidt-Leser mit dem inkriminierten Kurzroman ›Seelandschaft mit Pocahontas‹ verbinden. Was die Zeitgenossen als pornographisch und blasphemisch erregte, scheint, so eine heutige Verlagswerbung, als »erotische Sommergeschichte« abgelegt, Schloß Gripsholm auf arnoschmidtisch, gewissermaßen.

Natürlich gab es vereinzelt Gegenstimmen, aber erst in jüngster Zeit hat Klaus Theweleit vehement und umfangreich im Rahmen seines mehrbändig ausufernden Pocahontas-Projekts auf die ›Seelandschaft mit Pocahontas‹ als Leib- und Liebestext hingewiesen, dessen Ziel es sei, die subkutanen Verletzungen, die Nazideutschland den Körpern und ihrem Bewußtsein angetan hat, zu tilgen. Schmidts Kurzroman ist nach Theweleit der Versuch einer

Umwandlung von (Nazi)Gewalt in eine Politik der Köperberührung, die die Körper erhält und verlebendigt, […] statt sich (unaufhörlich) zu töten und abzutöten.

Daß die zeitgenössischen Erben der Tötungspolitik auf die lebendige Dynamik des Textes nicht anders als mit dem versuchten Totschlag in Form eines Strafverfahrens, das dem Schriftsteller Arno Schmidt kurzerhand die ohnehin karge und unsichere Existenzgrundlage entzogen hätte, reagieren konnten, scheint einleuchtend.

Wie sehr Arno Schmidt von der Erfahrung Nazideutschland traumatisiert wurde, läßt sich nur raten; auf welch’ finsterem Grund er sein Leben führte, kaum nachempfinden. Schmidts Leben und Werk ist von einer bizarren Fremdheit, die bei näherer Bekanntschaft nur noch zunimmt. Es ist der verdienstvollen Arno Schmidt Stiftung, die ruhig und jenseits umtriebiger Moden und Trends das Werk und den Nachlaß ediert, zu danken, daß sie mit ihrer jüngsten Edition Arno Schmidt wieder ein wenig fremder werden läßt.

Im nun vorliegendem Band ›Arno Schmidts »Seelandschaft mit Pocahontas«. Zettel und andere Materialien‹ kommt nicht nur der Philologe auf seine Kosten, dem in leider selten gewordener drucktechnischer Brillanz und mit großem typographischen Können »Faksimiles und Transkription sämtlicher Notizzettel und des Manuskripts« präsentiert werden, sondern auch der Leser, dem ein Roman nicht nur wohlfeiles Feierabendvergnügen, sondern intrikates Dialogangebot des Autors ist: So nah wie in den Faksimiles, Fotos und Kartenskizzen Arno Schmidts kommt man der Genese eines Prosakunstwerkes ersten Ranges selten.

Der heimliche Mittelpunkt des Bandes findet sich am Ende: Auszüge aus Alice Schmidts Tagebuch. Ihre Aufzeichnungen sind, natürlich, von philologischer Bedeutung für den Roman, doch wäre es fatal, reduzierte man sie auf diesen Aspekt. In ihnen wird die Wirklichkeit eines gemeinsamen Lebens erkennbar, das als beschädigt zu bezeichnen nur ein höhnischer Euphemismus wäre. Alice Schmidt überliefert nicht nur die bescheidenen Glücksmomente –

Ich liege lang im Boot, Beine vorn draufgelegt. So nach dem Schwimmen im Boot, das ist reine Seligkeit für mich. Fühle mich unendlich glücklich

– , sondern auch groteske, in ihrer Wucht bei nichtigem Anlaß befremdliche Wutausbrüche Arno Schmidts (»… beginnt sich Haare vor Wut zu raufen«) und Klagemonologe, in denen sich der Schriftsteller Schmidt ein Leben als unbedeutender Angestellter imaginiert:

Er habe den Schriftstellerberuf so satt. Er wäre nie gern Schriftsteller geworden. Ein kleiner Angestellter. Das wäre sein Traum. »Ich kann das nicht! Ich bin nicht geschaffen für diesen Beruf! Hätte ich nur einen anständigen! Könnten sie mir alle den Puckel runterrutschen. Ich bin dann der kleine Angestellte und keine Zeile schreibe ich mehr und mir soll dann mal einer kommen! Alle schmeiß ich raus. Und du wirst sehn, dann werd’ ich noch mal glücklich.«

Doch Glück ist keine Kategorie, die auf dieses Leben anwendbar wäre.

Ich nahm ihre kalte wachsrote Hand an, und trug sie erschüttert: Kind, was tun sich die Menschen für Erinnerungen an!

heißt es im Roman bevor das kurze – nein, nicht Glück – behutsame Beisammensein wieder zerbricht: »Mein Kopf hing noch voll von ihren Kleidern und ich antwortete nicht.«

Schmidt ist mit den (Kriegs)Erinnerungen seines Lebens nie mehr froh geworden und Erschütterung ist vielleicht die einzig adäquate Reaktion auf eine Prosa, in deren Komik und atemberaubender Artistik die Schrecken zwar aufgehoben, aber nicht gebannt werden.

Zu wünschen ist, daß der vorzügliche Materialienband nicht nur den Blick der von Erstarrung bedrohten Schmidtforschung weitet, sondern vor allem den Autor jungen Lesern, denen die fünfziger Jahre allenfalls als kultiger Modekick präsent sind, näher bringt. Zeit wird’s – und die ›Seelandschaft mit Pocahontas‹ ist kein schlechter Einstieg in Schmidts Werk.

›Arno Schmidts »Seelandschaft mit Pocahontas«. Zettel und andere Materialien‹, hg. v. Susanne Fischer u. Bernd Rauschenbach. Bargfeld, eine Edition der Arno Schmidt Stiftung im Haffmans Verlag 2000.
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