Dieser Text ist eine leicht überarbeitete Fassung eines Beitrags, den ich im Mai 2016 für das ›Schauerfeld‹, der Mitgliederzeitschrift der GASL, geschrieben habe.

Notizen zum Briefwechsel zwischen Arno Schmidt und Hans Wollschläger

Es begann mit Karl May. Am 10. August 1957 erschien in der FAZ Schmidts Essay ›Vom neuen Großmystiker‹, in dem er leidenschaftlich für die Lektüre von Mays Spätwerk warb und gleichzeitig vor den »im Handel erhältlichen Neubearbeitungen« warnte. Diese Kritik las man beim Karl-May-Verlag nicht gern, zumal man mit Schmidt schon in den Jahren zuvor bis zur Androhung rechtlicher Schritte durch den Verlag aneinander geraten war. Also beauftragte man einen freien Mitarbeiter, eine Erwiderung an die FAZ zu schicken.

Der Name dieses Mitarbeiters: Hans Wollschläger, damals gerade einmal 22 Jahre alt.

In seinem Schreiben an die FAZ vom 2. September 1957 lobt Wollschläger zwar Schmidts Essay als »sehr verdientstvolle[n] Schritt zur Rechtfertigung eines Mannes […], den die deutsche Kritik bisher in unverantwortlicher Weise vernachlässigt hat«, kritisiert aber die »mit subjektiver Hitzigkeit entstellend beurteilten Punkte«, die »nicht unwidersprochen« bleiben könnten. Als ausgleichende Ergänzung zu Schmidts Essay legte Wollschläger einen eigenen Aufsatz zu ›Im Reiche des silbernen Löwen‹ bei: ›Karl Mays Schatten-Roman‹.

Die FAZ reagierte so, wie Redaktionen nun mal reagieren: Man bedankte sich für Wollschlägers Brief, sah sich »aber nicht in der Lage, noch einmal auf das Phänomen Karl May in dieser Ausführlichkeit einzugehen«. Man habe daher Wollschlägers Aufsatz an Schmidt geschickt, »der sich mit Ihnen in Verbindung setzen wird«.

Schmidts Urteil über Wollschlägers Aufsatz fiel nicht allzu günstig aus: »Der Herausgeber d. Spätwerke May’s«, so notiert er am 5. September 1957 in seinem Tagebuch, »schreibt ein ellenlanges, knochenloses, Geseire. Ich antworte (also eigentlich dem Verlag!!)«.

Schmidts langes Schreiben an Wollschläger vom gleichen Tag fällt dagegen verbindlicher aus. Er wäre »für einen kurzen Hinweis« auf eventuelle Fehler dankbar, die er »bereitwillig verbessern werde« und ersehe aus Wollschlägers Aufsatz, »daß wir es Beide gut mit May meinen; alle anderen Abweichungen sind letzten Endes geringfügig, zum Teil reine Geschmackssache.« Anschließend geht er ausführlich auf den Aufsatz ein, bringt Ergänzungen und Kritik, die er allerdings deutlich relativiert: »Eine weitere Schwäche Ihrer Arbeit scheint mir zu sein – ich betone ›scheint‹ und ›mir‹! – […].«

So viel Konzilianz mag überraschen, erklärt sich aber wohl aus einem Missverständnis: Schmidt hielt Wollschläger nicht nur für einen (festen) Mitarbeiter und offiziellen Vertreter des Karl-May-Verlags, sondern auch für den präsumptiven Herausgeber des Spätwerks, also für einen für seine Arbeit wichtigen Kontakt, mit dem er es sich wohl nicht sofort verderben wollte.

Wollschläger antwortete prompt. In einem sehr langen Brief vom 10. September 1957 kritisiert und ergänzt er nun seinerseits Schmidts Ausführungen, betont aber immer wieder Gemeinsamkeiten und hält auch mit Kritik an den »Textkorruptionen der 54ger-Ausgabe des ›Silberlöwen‹« durch den Karl-May-Verlag nicht hinterm Berg. Gleichzeitig teilt er Schmidt mit, dass der »Drucksatz dieser Ausgabe unterdessen vernichtet worden ist«, was Schmidt in seinem Tagebuch am 11. September 1957 triumphierend vermerkt: »Karl=May=Verlag (Wollschläger): hat den Satz d. Bücher vernichtet!!! Sieg!!!!!!!!«

Als Beilage schickt Wollschläger die Abschrift eines Briefs von Karl May an seinen Verleger Fehsenfeld vom 24. Dezember 1902, für den sich Schmidt in seinem, ebenfalls sehr umfangreichen, Brief an Wollschläger vom 12. September 1957 bedankt.

Kurz darauf bietet der Briefwechsel Schmidt erneut Grund für einen triumphierenden Tagebuchvermerk. Wollschläger hatte ihn am 17. September 1957 über seine geplanten Eingriffe in Mays ›Im Reiche des silbernen Löwen‹ informiert, den Wollschläger im Auftrag des Karl-May-Verlags für eine Neuauflage bearbeitete. Am 19. September 1957 kritisiert Schmidt die geplanten Änderungen, am 23. September gibt Wollschläger ihm in einem langen Brief Recht:

Ich habe mir in den letzten Tagen die Neufassung des ›Silberlöwen‹ noch einmal vorgenommen und besonders die von Ihnen beanstandeten Stellen, die im IV. Band gestrichen werden sollten, genau geprüft. Und ich gebe Ihnen im Prinzip recht: die Jamben sollen also bleiben, wie sie sind. Ferner habe ich im Einverständnis mit Herrn Roland Schmid, der als Herausgeber zeichnen wird, alle Striche im IV. Band wieder aufgemacht.

Was Schmidt wichtig genug war, um es in seinem Tagebuch zu vermerken: »Karl=May=V: ändert Alles wie ich will!«

So geht es die nächste Zeit weiter. Das dominierende Thema bleibt Karl Mays Spätwerk, es werden biographische und philologische Fragen zu May diskutiert, persönliche Anmerkungen oder Notizen gibt es keine. Für Arno Schmidt ist Hans Wollschläger eine wichtige Quelle für Mayiana aller Art, die Wollschläger auch bereitwilligst liefert und Schmidt mit umfangreichen Insider-Informationen versieht. Hans Wollschläger versucht zwar, diesen Arbeitscharakter des Briefwechsels vorsichtig aufzulösen, schlägt schon früh – am 23. September 1957 – ein persönliches Treffen vor (dem Schmidt nicht abgeneigt ist, das aber aus Termingründen scheitert) und schreibt am 7. Februar 1958 erstmals einen gänzlich May-freien Brief, in dem er die im Oktober erschienene ›Gelehrtenrepublik‹ überschwänglich lobt. Darauf reagiert Schmidt allerdings nicht so, wie Wollschläger es sich wohl erhofft hatte. Am 14. Februar bedankt sich Schmidt kurz für den »freundlichen Zuspruch hinsichtlich der ›Gelehrtenrepublik‹!«, um gleich darauf wieder eine Frage zum »Spezialthema« Karl May zu stellen, die Wollschläger geflissentlich und ausführlich beantwortet, ohne einen erneuten Versuch zu unternehmen, das Themenfeld des Briefwechsels zu erweitern.

Erst allmählich wandelt sich Schmidts Blick auf Wollschläger. Am 24. April 1958 lässt Wollschläger in einem privaten Brief an Schmidt seinem Unmut über die Situation im Karl-May-Verlag etwas freieren Lauf:

die vielen Köche, die den Brei verderben sollen (die Mitarbeiter, auf die der Verlag hört und auf die ich also leider auch hören muß), sind noch lustig an der Arbeit. Ich kann mich gegenüber diesen ›alten Kämpfern‹ kaum durchsetzen, es sei denn, ich fange eines Tages an, mit Dynamit zu argumentieren. Die alten Vorurteile (bei den ›Freunden‹, nicht beim Verlag!) sind derartig fett geworden, daß man mit den üblichen – auch noch überzuckerten – Pillen nichts mehr ausrichtet.

Ab jetzt hält Schmidt Wollschläger nicht mehr für einen offiziellen Kontakt beim Karl-May-Verlag, sondern ist eher geneigt, ihn als Mitstreiter gegen den Verlag zu sehen. Am 4. Mai schreibt er an Wollschläger:

Es ist sehr gut, daß Sie mir – neben dem ›offiziellen‹ Briefwechsel – auch ›privat‹ geschrieben haben; ich glaube Ihre Stellung nun besser zu verstehen. Und halte es nun doch für gut & nützlich, daß wir uns irgendwann einmal zusammensetzen; sei es auch nur, um unsere Aktionen ein bißchen zu koordinieren.

Das nun von Schmidt vorgeschlagene Treffen kam dann am 19. Juli 1958 zustande. Wollschläger besuchte Schmidt in Darmstadt. Nun ändern sich allmählich Tonfall und Themen des Briefwechsels, und Wollschlägers in einem Brief vom 30. Juli formulierte Hoffnung, »die persönliche Bekanntschaft« werde »auch über den Grenzkreis unseres Spezialthemas hinaus Bestand haben«, ging in Erfüllung.

Zwar beherrscht Karl May den Briefwechsel nach wie vor über weite Strecken, zwar sieht Schmidt Wollschläger in erster Linie immer noch als Beschaffer »intime[r] May=Materialien« (Tagebucheintrag vom 19. Juli 1958), doch das Themenspektrum weitet sich, es fließen immer wieder Beschreibungen der persönlichen Situation der Briefschreiber ein (wobei Wollschläger hier, wenig überraschend, deutlich mitteilsamer ist als Schmidt) – und Schmidt wächst in die Rolle des Lehrers und Förderer Wollschlägers.

Bereits am 29. Dezember 1958 teilt Schmidt Wollschläger mit, er habe ihn an Ernst Krawehl empfohlen:

Mein Verleger hat mich bereits in meiner prächtigen Einöde aufgesucht; und, unter anderem, mir erneut bestätigt, daß ihm an neuen, jungen Prosaschreibern dringend gelegen wäre. Ich habe Ihren Namen genannt. Sehen Sie also doch bitte einmal Ihre Manuskriptvorräte durch; prüfen Sie, was sich eignen könnte – möglichst ein ›geschlossenes‹ Stück (d.h. mit ›Handlungsbogen‹); Idealumfang : 250 Seiten ± 50 – und senden Sie es, unter Berufung auf mich, an Herrn Ernst Krawehl […]. […] besitzen Sie erst einige ›angefangene‹ Stücke; dann schreiben Sie das mir (besser wäre es freilich, wir könnten uns einmal ausgiebig darüber unterhalten – über Titel; Inhalt; vermutlichen Umfang; und ›fertig zu wieviel Prozent?‹). Sollten Sie nichts haben, was im Laufe des Jahres 1959 druckfertig gemacht werden könnte, schreiben Sie mir bitte auch das ganz offen: es ist ganz & gar keine Schande, wenn Sie, bei Ihrer notorischen Überlastung mit Bambergiaden, jetzt noch nichts Fertiges vorweisen können.

Wollschläger scheint diese Empfehlung wie ein Blitz aus heiterem Himmel getroffen zu haben. In seinem Brief vom 7. Januar 1959 reagiert er erschrocken, formuliert wortreich seine Angst, den mit der Empfehlung verbundenen Erwartungen nicht gerecht werden zu können, erläutert seine von Selbstzweifeln und Depressionen grundierte Entwicklung und sein Pendeln zwischen Literatur und Musik. Erstmals taucht hier Wollschlägers Roman ›Variationen‹ auf (eine erste Fassung der späteren ›Herzgewächse‹), der im weiteren Verlauf des Briefwechsels immer wieder von Wollschläger und Schmidt diskutiert werden wird.

Der Briefwechsel nimmt in den folgenden Jahren deutlich an Intensität zu. Karl May bleibt der nie verklingende Generalbass, aber darüber entfalten sich zahlreiche neue Themen und Variationen. Schmidt kümmert sich nachgerade rührend um Wollschläger. In seinen Briefen gibt er ihm immer wieder praktische Tipps, informiert ihn über übliche Honorarsätze und hält Wollschläger regelmäßig dazu an, seine literarischen Pläne konsequent zu verfolgen. Gleichzeitig empfiehlt er ihn immer wieder als Autor und vermittelt Kontakte für Artikel und Übersetzungen. Kurz: Schmidt macht ab Ende der 50er-Jahre genau das, was er sich noch einmal explizit in einer Tagebuchnotiz vom 1. Januar 1962 vornimmt: »Ab 9ʰ Wollschläger; Wir besprechen oben, allein sein Buch – gutes Stück, ich werde ihm helfen!«

Schmidt wird zu einem nachgerade idealtypischen Lehrer, der lobt, kritisiert und unterstützt und alles in seiner Macht stehende unternimmt, um Wollschlägers Roman bei einem Verlag unterzubringen. Die Vermutung, Schmidts steter Zuspruch hätte entscheidenden Anteil an der Schriftstellerwerdung Hans Wollschlägers gehabt, liegt ausgesprochen nahe und geht wohl nicht allzu fehl.

Gleichzeitig wird Wollschläger im Tonfall sicherer, der Briefdialog erfolgt zunehmend auf Augenhöhe. Die anfangs fast devote Haltung weicht langsam einem wachsenden Selbstbewusstsein, die offizielle Steifheit der Anfangszeit einer immer souveräner werdenden, freieren und mitunter spielerischen Sprache, die sich in der Schilderung skurriler Vorfälle im oder in wütenden Polemiken gegen den Karl-May-Verlag übt.

Seinen Höhepunkt erreicht der die Jahre 1957 bis 1972 umspannende Briefwechsel in den drei Jahren von 1962 bis 1964; in diesen Jahren schreiben sich Wollschläger und Schmidt rund 150 Briefe – und damit gut 40 Prozent des rund 360 Briefe umfassenden Briefwechsels. Danach flaut der Briefwechsel nicht nur deutlich ab, sondern bricht praktisch zusammen. In den acht Jahren von 1965 bis 1972 schreiben sich die beiden nur noch rund 45 Briefe. Dabei bietet die Arbeit an der Poe-Übersetzung noch einige Anknüpfungspunkte, doch auch die verblassen im Laufe der Zeit. Am 11. Februar 1968 ist Wollschläger zum letzten Mal bei Arno Schmidt in Bargfeld, und Schmidt scheint durchaus noch mitteilungsfreudig gewesen zu sein (»Arno […] plaudert ihm all seine Panoramafunde zutraulich unbefangen aus«, notiert Alice Schmidt in Ihrem Tagebuch). Doch dieses kurze Aufflackern von etwas, das einmal war, kann nicht verdecken, dass sich Wollschläger und Schmidt entfremdet haben.

In seinen Briefen wird Schmidt immer einsilbiger, begnügt sich am Ende gar mit nichtssagenden »Dank & Gruß«-Meldungen, Wollschlägers Briefe werden nachgerade hilflos, erzählen mit spürbarer Lustlosigkeit von seinem (Arbeits)alltag, und wollen doch offensichtlich von etwas ganz Anderem reden (»ich weiß nicht, manchmal kommt mich doch ein schwer Mütlein an darüber: daß Sie mich so auf Distanz gerückt haben«, 18. Januar 1971).

Über die Gründe für dieses Erlöschen der Beziehung kann man nur spekulieren, aus dem Briefwechsel allein lassen sie sich nicht ablesen. Natürlich spielt Schmidts Versinken in ›Zettel’s Traum‹ eine große Rolle, aber das allein kann Schmidts Verstummen nicht erklären. Wichtig ist sicherlich auch, dass Wollschläger aus der Rolle des Schülers herausgewachsen und Schmidts Lehrerrolle überflüssig geworden war. Monika Wollschläger überliefert, dass Schmidt ihr im September 1964 erklärt habe, er werde sich nun langsam zurückziehen, denn Wollschläger »braucht mich jetzt nicht mehr«.

Auch scheint Schmidt sich resignierend eingestanden zu haben, dass Wollschlägers Entwicklung gänzlich anders verlief als von ihm wohl erhofft. In einem seiner letzten Briefe (vom 6. November 1968) scheint er noch einmal zu versuchen, Wollschläger zur disziplinierten Weiterarbeit an seinem »zweiten Roman« (gemeint sind die ›Nacht=Stücke‹) zu ermuntern. »Daß Ihr Buch nicht recht vorankommt, ist mehr als bedauerlich«, hebt er an. Aber statt nun, wie in früheren Zeiten, Ermahnungen und praktische Ratschläge folgen zu lassen, bricht er sogleich wieder ab: »(Nun, da kann Niemand helfen)«.

Den Schluss bildet ein bedrückend trostloser Brief Hans Wollschlägers an Arno Schmidt, auf den Schmidt nicht mehr antwortet. Am 22. November 1972, nach fast zweijähriger Pause – zuletzt schrieb Wollschläger am 18. Januar 1971 einen Geburtstagsgruß an Schmidt –, versucht Wollschläger noch einmal »etwas Früheres wiederherzustellen«, was ihm aber fulminant missglückt. Nach verschiedenen Anläufen muss er sich schließlich eingestehen, einen »mißlungene[n] Brief« zu schreiben:

er klingt gröblich und brockenhaft, und dabei sollte er ganz empfindliche Sachen sagen. Ich bin gräßlich müde. Geht es, daß wir uns doch noch einmal wieder gegenübersitzen? Ich fände es gut, wünschte es sehr. […] Ich stehe ein bißchen da wie Parzifal; mündlich würde ich doch sehr direkt fragen ….
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