Rätselhafte Klingelzüge

Sonntag, 5. Juli 2020

In ›Sitara und der Weg dorthin‹ führt Schmidt einmal folgende Passage für die sexuelle Unterfütterung von Mays Texten an:

Das ist einmal ein Korb am Strick, von dem Mil’chen sich ausdrückt: »Den Strick behält man, wenn er abgeleiert ist, in der Hand, um fühlen zu können, wenn von unten an demselben gezogen wird.« Schon recht; aber hier die zweite Strippe, daneben?: »Im Falle daß Eines von uns in die Höhle kommt, so steigen wir am Baume herauf, und ziehen hier an dem Klingeldraht. Dann hört Derjenige, der hier verborgen ist, das Klingeln und kann über unser Erscheinen, da es ihm auf diese Weise angekündigt worden ist, nicht erschrecken.› – ‹Schwesterchen, ich muß Dir eingestehen, daß ihr alles auf das vortrefflichste eingerichtet habt!›«. Abgesehen, daß bereits Herr ‹Suteminn› ähnlich an 2 Rosenranken zupfte (vgl. S. 62), gibt es noch ein ganz bestimmtes Gedicht, von dem alten genialischen Spitzbuben, dem Wilhelm Busch, dem man die Bedeutung solcher ‹Klingelzüge› und ‹abgeleierten Stricke› entnehmen kann.

Ich muss zugeben, dass mir solche zweideutig sein sollende Passagen mitunter rätselhaft bleiben und sich mir die doppelbödigen Sinnebenen, die Schmidt hier anscheinend wahrnahm, erst nach einigem Nachdenken erschließen (manchmal auch überhaupt nicht). Der »abgeleierte Strick« in Frauenhand ist noch einfach – ein erschlaffter Penis nach der Ejakulation –, und vermutlich sah Schmidt auch im Klingelzug einmal mehr »Peniden, nichts als Peniden« (›Die Schule der Atheisten‹, BA IV, 2, S. 40).

Interessanter als Schmidts hypersensibles Gespür für Mehrdeutigkeiten scheint mir hier allerdings etwas anderes, nämlich die Bezugnahme auf »ein ganz bestimmtes Gedicht« Wilhelm Buschs: Das nämlich gibt es nicht.

Die zitierte Passage stammt aus Mays Kolportage-Roman ›Deutsche Herzen, deutsche Helden‹ (S. 2036), auf die Schmidt durch Hans Wollschläger in einem Brief vom 24. Juli 1962 – also während der Arbeit an ›Sitara‹ – aufmerksam gemacht wurde. Hier findet sich nicht nur der Verweis auf das (angebliche) Gedicht Wilhelm Buschs, auch Schmidts Titulierung Buschs als »alten genialischen Spitzuben« verdankt sich wohl diesem Brief:

(– noch eine Organ-Abbildung –: DEUTSCHE HERZEN Band V, S. 382 ff., wo man wieder an einem Baumstamm in die Höhe klettern muß, um die Höhle zu erreichen: und wieder ist die ›Führerin‹ ein weibliches Wesen, das sich dann zurückzieht … Auch ein ›Klingelzug‹ ist vorhanden –: und das assoziiert einmal mehr: Sie kennen die witzigen Verse, die der alte Halunke Wilhelm Busch über den ›Bezug‹ gemacht hat – ? (sie stehen freilich in keiner einzigen der Gesamtausgaben –, wie üblich) … )
Briefe IV, S. 473

Wollschläger verrät leider nicht, welches Gedicht Wilhelm Buschs er hier im Sinn hat, im weiteren Verlauf des Briefwechsel spielt es auch keine Rolle mehr.

Erst Jahre später, lange nach Schmidts Tod, meinte sich Wollschläger erinnern zu können, folgendes Gedicht gemeint zu haben:

Klingelzug an Häuserwand,
Weiberbrust in Männerhand:
Sind einander nah verwandt.
Tut man sie nur leis’ berühren,
Kann man’s gleich im Innern spüren:
Drunten muß doch Einer stehn,
Der begehrt, hinein zu gehn.
Briefe IV, S. 473, Anm.

Dieses Gedicht steht in der Tat in »keiner einzigen der Gesamtausgaben« Wilhelm Buschs, handelt es sich hier doch wohl eher um ein Produkt dessen, was Peter Rühmkorf das »Volksvermögen« genannt hat: Um schlüpfrige Spaßverse, deren Ursprung im Dunkeln liegen und denen man zur Legitimation und eigenen moralischen Entlastung einen großen Namen anklebt – Wilhelm Busch, zum Beispiel (wer ein wenig herumstöbert, findet auch Goethe als vermeintlichen Urheber).

Bleibt noch die Frage, ob Schmidt dieses Gedicht gekannt und Wollschlägers Anspielung verstanden hat, wie dieser sie meinte. Schmidts nonchalante Anspielung auf das vorgebliche Gedicht Wilhelm Buschs nährt, fürchte ich, allerdings ein wenig den Verdacht, dass Schmidt sich hier einfach auf Wollschläger verließ und den Hinweis aufnahm, weil er ihm gerade so schön in den argumentatorischen Kram passte.

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